Das übergeordnete öffentliche Interesse an Erneuerbaren Energien

von Dr. Martin Weiss, LL.B., LL.M.

Im Rahmen seiner Monografie „Die wasserrechtliche Genehmigung von Kleinwasserkraftanlagen: Erneuerbare Energien und ihre besondere Gewichtigkeit bei Interessenabwägungen“ setzte sich Dr. Martin Weiss, LL.B., LL.M. intensiv mit aktuellen rechtlichen Thematiken rund um Kleinwasserkraftanlagen auseinander. Dabei konnten einige bedeutungsvolle Erkenntnisse gewonnen werden, welche in Genehmigungsverfahren von Kleinwasserkraftanlagen berücksichtigt werden sollten.

Vor meinen konkreten Ausführungen zu übergeordneten öffentlichen Interessen möchte ich den Lesern das Instrument einer verwaltungsrechtlichen Interessenab- wägung in Erinnerung rufen, wie sie zum Beispiel in den allseits bekannten §§ 104a, 105 WRG Eingang findet.

Zur Erklärung der Thematik muss einleitend kurz auf den Begriff des öffentlichen Interesses eingegangen werden. Dabei handelt es sich um einen unbestimmten Gesetzesbegriff, welcher jeweils auslegungsbedürftig ist. Man könnte öffentliches Interesse abstrahiert auch als „das allgemein Beste“ bezeichnen, welches vom Staat gesichert und gefördert werden soll. Der Begriff des öffentlichen Interesses umfasst also Interessen, welche für die Allgemeinheit wichtig sind. Was ein öf- fentliches Interesse ist, kann sich unterschiedlich ge- stalten und sich über die Jahre wegen wirtschaftlicher, technischer, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen verändern. Hierzu sei nur kurz angemerkt, dass sich zum Beispiel die Werte der Europäischen Union von einer Gemeinschaft für Kohle und Stahl hin zu einer „modernen Gemeinschaft“ mit Werten wie Klimaschutz und Erneuerbaren Energien verändert haben.

Bei einer Interessenabwägung geht es um die Gegen- überstellung unterschiedlicher öffentlicher Interessen, welche gewichtet und miteinander abgewogen werden. Was in welchem Ausmaß bei einer Interessenabwägung miteinzubeziehen ist, geben die entsprechend anzuwen- denden konkreten Rechtsvorschriften, wie zum Beispiel § 104a und § 105 WRG vor.

Möchte man dieses, für einen rechtlichen Laien schwer begreifliche Prozedere einer Interessenabwägung als Formel darstellen, könnte diese wie folgt lauten:

 

Zur Erklärung der Formel ist anzuführen, dass den oberhalb des Bruchstrichs stehenden legitimierenden öffentlichen Interessen (Variable „a“), die sich unterhalb des Bruchstrichs befindlichen konfligierenden öffentli- chen Interessen (Variable „c“), gegenüberstehen. Diese öffentlichen Interessen (Variablen „a“ und „c“) werden von der handelnden Behörde durch die sich aus dem Ge- setz ergebenden Gewichtungen (Variablen „b“ und „d“) berichtigt. Der Prozess, welcher zum Ergebnis (Variable „y“) einer verwaltungsrechtlichen Interessenabwägung führt, ist die Gegenüberstellung der gewichteten legiti- mierenden und konfligierenden öffentlichen Interessen (Produkte aus Zähler und Nenner des Bruchs) durch die Verwaltungsbehörde.

Der Gedanke, dass alle Ergebnisse, bei welchen y ≥ 1 ist, zur Genehmigung eines Projektes führen, würde jedoch zu weit gehen, da die jeweils heranzuziehenden öffentli- chen Interessen im Regelfall nicht quantifizierbar sind. Wer kann schon beurteilen, ob nun – banal gesagt – gewisse Pflanzen oder gewisse Tierarten wichtiger sind. Es handelt sich bei dieser abstrakten Formel daher nicht um eine mathematische Formel, in welche Zahlen eingesetzt werden können, sondern um eine abstrahier- te Darstellung des beweglichen Systems einer Interes- senabwägung.

Nun ist es zwar gelungen, ein wenig Konkretisierung in die Materie zu bringen, praxisbezogen hilft diese Darstellung von der bestehenden „beweglichen“ Systematik einer Interessenabwägung jedoch nur bedingt weiter. Im Zuge der im Rahmen meiner Publikation gemachten Untersuchungen bin ich nach einer umfangreichen Auseinandersetzung mit der Lehre und Rechtsprechung zu § 105 WRG zu dem Ergebnis gekommen, dass bestimmten „Grundsätzen, Prinzipien und Zielen“, (siehe dazu Berger in Oberleitner/Berger, WRG-ON4.00 § 105 WRG Rz 4) wie etwa jenen, welche die Sicherheit und die Gesundheit des Menschen erfassen und damit einhergehenden  öffentlichen Interessen bei wasserrechtlichen Interessenabwägungen ein höheres Gewicht als anderen öffentlichen Interessen beizumessen ist. Die Nutzung von Erneuerbaren Energien und die mit Erneuerbaren Energien einhergehenden öffentlichen Interessen erfüllen zum aktuellen Zeitpunkt, nach den vorgenommenen Untersuchungen, die Anforderungen eines besonders gewichtigen öffentlichen Interesses, welches mit bestimmten  Grundsätzen, Prinzipien und Zielen“ einhergeht und eng mit der Sicherheit und der Gesundheit des Menschen verknüpft ist.

Diese in Zusammenhang mit § 105 WRG erlangten Ergebnisse decken sich u.a. mit zentralen Normen  unserer Rechtsordnung, wie zum Beispiel § 16 ABGB, wonach die Persönlichkeit des Menschen ein Grundwert derselben ist. Der Kernbereich der Persönlichkeit umfasst u.a. die gesundheitliche Situation des Menschen. Weiters ist anzuführen, dass es sich bei Erneuerbaren Energien aktuell um einen wichtigen Grundwert unserer Gesellschaft handelt. Dabei ist auch auf die Einordnung der mit Erneuerbaren Energien zusammenhängenden Rechtsquellen und  die darin enthaltenen Zielvorgaben auf bedeutsamen Ebenen im Stufenbau der Rechtsordnung zu verweisen, wodurch die besondere Bedeutung von diesen im gesamten Kontext der Rechtsordnung untermauert wird. Hierbei können beispielhaft die Art. 3 EUV (Umweltschutz), Art. 11 AEUV (Erfordernisse des Umweltschutzes), Art. 191, 192 AEUV (beide Umwelt), 194 AEUV (Energiepolitik), Art. 37 GRC (Umweltschutz) oder die §§ 1, 3 BVG Nachhaltigkeit  (Nachhaltigkeit, Umweltschutz) genannt werden. Argumentativ kann ferner die gefährdungsbedingte Rangfolge des Art. 13 Abs. 2 B-VG angeführt werden, wonach jene Ziele vorrangig zu verfolgen sind, welche in einer konkreten Wirtschaftslage besonders gefährdet sind.

Unter Hinzuziehung von naturwissenschaftlichen Studien und Erkenntnissen, wonach eine Erderwärmung von 1 °C u.a. die Vereitelung gewisser Interessen des Umweltschutzes (zum Beispiel gewisse Tier- und Pflanzenarten) verursacht und die Energieaufbringung einen wesentlichen Teil zur Verhinderung der Erderwärmung beiträgt, kommt man meines Erachtens daher unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Monographie zu dem Schluss, dass die gewonnene Erkenntnis in Zusammenhang mit der besonderen Gewichtigkeit von Erneuerbaren Energien und mit Erneuerbaren Energien einhergehenden öffentlichen Interessen nicht auf Interessenabwägungen im Sinne des WRG begrenzt sein kann, sondern für sämtliche verwaltungsrechtliche Interessenabwägungen Geltung haben muss. Man kann daher davon sprechen, dass es sich bei Erneuerbaren Energien um übergeordnete öffentliche Interessen handelt, da mit der Vereitelung von übergeordneten öffentlichen Interessen automatisch auch „normale“ öffentliche Interessen vereitelt werden könnten und – sofern die Klimaerwärmung ihren weiteren Lauf nimmt
– auch aufgrund von naturwissenschaftlichen Zusammenhängen vereitelt werden. Wenn zum Beispiel eine Erderwärmung von 1 °C das Sterben gewisser Tierarten verursacht, macht es nur wenig Sinn, bei all den aktuellen Trends und Zusammenhängen, Umweltschutzinteressen im Sinne von Tierschutz generell gegenüber Energien aus Erneuerbaren Quellen Vorrang einzuräumen. Ohne die Begrenzung der Erderwärmung zum Beispiel durch den Umstieg von fossilen- auf Erneuerbare Energien sind solche Umweltschutzinteressen ohnehin hinfällig.

Im Ergebnis kann daher festgestellt werden, dass Erneuerbaren Energien und den mit erneuerbaren Energien typischerweise einhergehenden öffentlichen Interessen im Gesamtkontext der öffentlichen Interessen und bei verwaltungsrechtlichen Interessenabwägungen in umweltrechtlichen Bereichen eine besondere Bedeutung und daher ein besonderes Gewicht zukommen muss. Möchte man die soeben erlangte Erkenntnis anhand der zuvor dargestellten mathematischen Formel abstrahieren, kommt man zu folgendem Ergebnis:

Dieser, sich aus der Rechtsordnung ergebende Faktor „e“, welcher die besondere Gewichtigkeit von Erneuerbaren Energien beschreibt, muss auf die mit Erneuerbaren Energien typischerweise zusammenhängenden öffentlichen Interessen (die zuvor stehenden Termini im Zähler) stets erhöhend wirken bzw. diese gewichtiger machen. Die Intensität, welche öffentliche Interessen aufweisen müssen, die gegen Erneuerbare Energien und damit verbundene Vorhaben spricht, muss demnach höher sein, als sie zur Vereitelung anderer Vorhaben wäre, welche nicht unmittelbar oder mittelbar mit Erneuerbaren Energien zusammenhängen. Zur Abstrahierung dieser Erkenntnis kann meines Erachtens zum Beispiel folgender konditionaler Zusammenhang aufgestellt werden:


Stehen bei verwaltungsrechtlichen Interessenabwägungen besonders gewichtigen öffentlichen Interessen, „normale“ öffentliche Interessen gegenüber, so müssen diese „normalen“ öffentlichen Interessen eine höhere Intensitätsschwelle erreichen, als sie erforderlich wäre, wenn sich „normale“ öffentliche Interessen und andere „normale“ öffentliche Interessen gegenüberstehen würden.

 

Bezogen auf die in diesem Magazin im Fokus stehenden Genehmigungen von Kleinwasserkraftanlagen bedeutet das: Mit Kleinwasserkraftanlagen typischerweise einhergehende öffentliche Interessen, wie etwa die Produktion von Energie aus Erneuerbaren Quellen, stellen bei verwaltungsrechtlichen Interessenabwägungen in umweltrechtlichen Bereichen besonders gewichtige öffentliche Interessen dar. Zudem bringen Kleinwasserkraftanlagen im Regelfall geringere Eingriffe in andere öffentliche Interessen als „größere“ Wasserkraftanlagen mit sich. Die mit Kleinwasserkraftanlagen konfligierenden öffentlichen Interessen haben folglich umso gewichtiger zu sein, um zur Versagung der Genehmigung einer Kleinwasserkraftanlage zu führen. Verwaltungsrechtliche Interessenabwägungen in umweltrechtlichen Bereichen müssen daher, aufgrund dieser Erkenntnisse, vermehrt zugunsten von  Kleinwasserkraftanlagen ausfallen.
Nicht außer Acht gelassen werden sollte in Zusammenhang mit all diesen Erkenntnissen, Formeln und Bedingungen, dass eine Abwägung immer einzelfallbezogen anhand der konkret anzuwendenden Vorschriften und im Sinne des beweglichen Systems zu erfolgen hat. Es würde meines Erachtens dem Wesen von Interessenabwägungen, welchen ein gewisser behördlicher Handlungsspielraum immanent ist, widersprechen, bereits im Vorhinein absolut und immer gleichermaßen geltende Ergebnisse vorzugeben.

 

In der kommenden Ausgabe des Wasserkraftmagazins (Dezember 2021) werden, in einem weiteren Artikel von Dr. Weiss, die möglichen Auswirkungen des übergeordneten öffentlichen Interesses von Erneuerbaren Energien auf die Interessensabwägung im Wasserrechtsverfahren diskutiert.

 

Der Autor:

 

Dr. Martin Weiss, LL.B., LL.M. studierte ab Oktober 2016 Wirtschaftsrecht (Bachelor und Masterstudium) und Rechtswissenschaften (Doktoratsstudium) an der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.

 

Im Dezember 2020 promovierte er zum Dr. iur. mit einem Notendurchschnitt von 1,0. Die Mindeststudienzeit wurde bei sämtlichen Studien von ihm unterschritten.

 

Neben seinem Studium sammelte er wertvolle Berufserfahrung in einer renommierten Innsbrucker Wirtschaftsrechtskanzlei, bevor er als Rechtsanwaltsanwärter in der Rechtsanwaltskanzlei Partl-Fischer-Lode seinen beruflichen Werdegang fortsetzte.

 

Kontakt: weiss(at)law-for-you.at

 

Buchtipp - Die wasserrechtliche Genehmigung von Kleinwasserkraftwerken

 

Der hier abgedruckte Artikel stellt einen zusam-menfassenden Auszug eines Kapitels des Buches von Dr. Martin Weiss dar, welches als wissenschaftliche Arbeit eine geringfügig abgeänderte und erweiterte Fassung seiner Dissertation ist. Das Buch widmet sich Problemstellungen rund um die wasserrechtliche Genehmigung von Kleinwasserkraftanlagen, und zeigt deren besonderes „übergeordnetes“ öffentliche Interesse bei Interessenabwägungen in umweltrechtlichen Bereichen auf. Die aus dem Kleinwasserkraftsektor gewonnenen Erkenntnisse lassen dabei allgemeine Schlüsse zu, welche für sämtliche umweltrechtliche Bereiche und dort angesiedelte Interessenabwägungen, vor allem auch für andere erneuerbaren Energie Projekte, heranziehbar und bedeutend sind.

 

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